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Examensarbeit Piehl

Piehl, D. 2019: Anforderungen an den Sexualunterricht in Bezug auf eine sich stärkeredifferenzierende Geschlechteridentität.

Einleitung:

„Meine Identität ist von sozialen Problemen de Anerkennung nicht zu trennen. Wir sind abhängig von den bestehenden sozialen Kategorien, und die bestehen außerhalb von uns. Deshalb ist manchmal der einzige Weg, um Anerkennung zu erlangen mich mit meiner Identitätskategorie abzufinden- gleich, ob sie sich für mich richtig anfühlt oder nicht. Die Kategorie zirkuliert schon in der Welt, und sobald ich Anerkennung für meine Identität fordere trete ich in diese Zirkulation ein. Ich muss also immer mit den bestehenden Normen arbeiten.“ -Judith Butler (2013, S.64)

Mit diesem Zitat verweist die amerikanische Philosophin Judith Butler (2013) auf die sozialen und gesellschaftlichen Normen, die von Geburt an mit Erwartungen und Vorstellungen gegenüber einem Individuum einhergehen. Diese müssen erfüllt werden, um Akzeptanz und Anerkennung in der Gesellschaft zu erlangen. Wenn ein Kind geboren wird, lautet die erste Frage: „Was ist es denn?“. Damit werden den Eltern die zwei Antwortmöglichkeiten, Junge oder Mädchen, offeriert. Das Geschlecht und die eindeutige Zuordnung eines Individuums in dieser Kategorie gelten als Grundannahme in der Gesellschaft. In diesem Bedeutungszusammenhang wird Heterosexualität sowie die Annahme, dass die Fortpflanzung die primäre Aufgabe der Sexualität sei, verstanden. An diesen gesellschaftlichen Normen und Werte orientieren die Menschen ihr Denken, Fühlen, ihre Einstellungen sowie ihr Handeln (Deckmann et al., 2017).

Weltweit gibt es Menschen, die nicht in das gesellschaftliche Normativ passen (Dalia Research, 2016, S.2). Diese stellen eine Minderheit dar, die durch das Akronym „LGBTQ+“ bezeichnet wird (Leufke, 2016). Die Begrifflichkeiten, die für die LGBTQ+ Gemeinschaft stehen, sind „lesbian, gay, bisexual, transgender, intersexuell, queer“ und das „+“ steht für die Inklusivität für weitere Geschlechtsidentitäten wie zum Beispiel „pan“ „transsexuelle“ oder „asexuell“ (Schadendorf, 2019, S. 302). Weiterhin wird in diesem Zusammenhang auch der Begriff „Queer“ angeführt, der sich auf „die Aufhebung einer festgelegten, klaren und natürlichen Identität“ bezieht (Jagose, 2001, S.125). In beiden Begrifflichkeiten wird auf eine Offenheit verwiesen, die sich den starren heterosexuellen, gesellschaftlichen Normen widersetzen und diese widerlegen (Simbürger, 2010).

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt, die diese Begriffe implizieren, sind in den letzten Jahren zu einem diskursiven Ereignis, gegenüber der „Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Existenz- und Lebensweisen“ avanciert (Pohlkamp, 2015, S.76). Diese Thematik ist erst seit 1968 durch eine Widerstandsbewegung in der Christopher Street in New York in das Bewusstsein der Allgemeinheit getreten, in dem es sich gegen Diskriminierungen und Nichtakzeptanz zu wehren begann (Götschel, 2015). Dieser Tag wird heute noch als CSD jährlich gefeiert.

In den letzten Jahrzehnten traten einige gesetzliche Neuerungen in Kraft, um der Ungleichbehandlung entgegenzuwirken. Es wurden schrittweise einige gesetzliche Festlegungen geändert, um diese gesellschaftliche Problematik zu reduzieren und eine allgemeine Akzeptanz der geschlechtlichen sowie sexuellen Vielfalt zu generieren. Unter anderem trat das Antidiskriminierungsgesetz im Jahr 2006 in Kraft, welches einen Meilenstein für die Entwicklung zu einer gerechteren Gesellschaft setzte und einen Schutz für Individuen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt gewährleistet (AGG, 2006). Weiterhin wurde Gesetzlichkeiten geändert, um diverse geschlechtliche als auch sexuelle Identitäten mehr in das gesellschaftliche Gefüge zu integrieren und eine allgemeine Akzeptanz zu schaffen (Timmermanns & Böhm, 2019).

Trotz gesetzlicher Neuerungen ist Diskriminierungen in der Gesellschaft stets und in allen Bereichen und Institutionen im alltäglichen Miteinander präsent. Die Ungleichbehandlung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt und LGBTQ+ Personen beruht unter anderem auf einem fehlenden bzw. unzureichendem Wissen über Geschlecht und Sexualität. Die Wissensvermittlung dieser beiden Aspekte ist in dem Aufgabenbereich der Schule zu verorten, explizit im Biologieunterricht. Die Schule muss auf den gesellschaftlichen Kontext als auch auf neue Anforderungen und Entwicklungen reagieren. Die schulische Institution ist ein prägender Ort, in dem Jugendliche und Kinder verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen. Daraus resultierend lautet das Bildungsziel zu Diskriminierung überwinden und sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in die Bildungsinhalte zu integrieren.

Die Thematisierung sowie empirische Erhebungen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im schulischen Kontext sind erst seit wenigen Jahren verzeichnen (Hartmann, 2017). Die erste bundesweite Studie zu der Lebensweise sowie die Situationen von LGBTQ* Jugendlichen und jungen Erwachsenen im schulischen Bereich wurde im Jahr 2015 veröffentlicht (Krell, 2015). Allgemein finden LGBTQ-Jugendliche in großen Jugendstudien kaum Berücksichtigung. Dadurch existieren in Deutschland wenig forschungsbasierte Erkenntnisse über z.B. Einstellungen, Ansichten oder Situationen von LGBTQ+ Personen. Da die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt im Blickfeld Schule sowie für LGBTQ+ Personen prozesshaft in das gesellschaftliche Sichtfeld gelangen, ist eine Forschung auf diesem Gebiet unabdingbar, um dieser unterrepräsentierten Forschungssituation entgegenzuwirken. Ausgehend von der hohen Relevanz der antidiskriminierenden Maßnahmen und der Aktualität der Reaktion der schulischen Institutionen auf den gesellschaftlichen Wandel bezieht sich der Untersuchungsaspekt der vorliegenden Erarbeitung auf die neuen Anforderungen hinsichtlich der geschlechtlichen und sexuellen Identität im Aufklärungsunterricht allgemeinbildenden Schulen aus der Perspektive von LGBTQ+ Personen.

Bevor das Forschungsdesign entwickelt wird, muss eine umfangreiche Betrachtung der Theorie sowie bereits vorhandener Studien erfolgen, um daran anknüpfen zu können. Hierbei ist es wichtig, dass eine Multiperspektivität für die weiteren Schritte, aufgrund der biologischen, sozialen sowie psychologischen Aspekte der Sexualaufklärung und der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt, erreicht wird. Der Theorieteil bezieht sich zunächst auf die Basis des sozialen Handelns des Menschen im Alltag, basierend auf Kategorisierungsprozessen, die zur Genese von Kategorien, Stereotypen und Vorurteilen beitragen. Diese Auseinandersetzung ist wichtig, um nachvollziehen zu können, wie Diskriminierung entsteht.

Als weitere Grundlage erfolgt eine Darstellung der Aspekte der Sexualität und daran anknüpfen die verschiedenen Ebenen des Geschlechts. In der Recherche wurde deutlich, dass es keine vollständigen Darstellungen der biologischen sowie psychosozialen Ebenen des Geschlechts gibt, daher wird versucht, dies umfangreich im theoretischen Rahmen darzustellen. Als verbindender Aspekt zwischen den bereits genannten Aspekten erfolgt die Darstellung und Erklärung der Heteronormativität, die in der Gesellschaft vertreten wird und diskriminierend auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt wirkt.

Um auf den schulischen Kontext überzuleiten, den diese Studie fokussiert, erfolgt eine Thematisierung der Sexualpädagogik sowie -erziehung, um ausgehend von deren Inhalten und dem daraus resultierenden Bildungsmodellen auf die Inhalte der exemplarischen Lehrpläne überzuleiten. Dieser Exkurs betrachtet das Vorkommen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Curriculum. Lehrer*innen nehmen eine wichtige Funktion im Sexualkundeunterricht ein. Bezugnehmend erfolgt eine Betrachtung der Studie „Jugendsexualität 2014/15“ von Bode und Heßling (2015), um die Bedeutung der Lehrperson für die Aufklärung junger Menschen im Rahmen des Unterrichts. All vorher betrachteten Aspekte dienen zu der Hinführung zu der ergebnisorientierten Darstellung der Studien „Gay, Lesbian Alliance against Defamation“ (GLAAD, 2017) sowie „Coming- Out und dann…?“ (Krell, 2015), die die schulische Situation und Diskriminierung von LGBTQ+ Jugendlichen analysieren.

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